Folge 1: Verlust im 21. Jahrhundert

 

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Verlust gab es immer, aber deine Vorfahren haben ihn wohl anders erlebt als wir heute. Der Tod eines Kindes oder des Lebenspartners war sicherlich zu allen Zeiten ein Unglück. Zumal es früher neben dem emotionalen Schmerz nach dem Tod des Partners auch oftmals zu sehr großen existentiellen Herausforderungen kam. Eine Witwenrente wurde in Deutschland erst im Jahr 1911 eingeführt. Vorher waren Hinterbliebene ganz auf die Unterstützung innerhalb des Familienverbunds oder der Dorfgemeinschaft angewiesen. Wer kein soziales Netz besaß, war verloren und dem Elend preisgegeben.

Vergleichsweise leben wir heute in sehr beschützten Zeiten. Der Staat sorgt dafür, dass niemand zugrunde geht. Die ungeheuren Fortschritte der Medizin seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben zudem dazu geführt, dass eine Vielzahl früher tödlicher Krankheiten heute erfolgreich behandelt werden kann. So sterben in Deutschland heutzutage jährlich nur noch ca. 4.000 Minderjährige, etwa 2.500 davon im ersten Lebensjahr an den Folgen schwerer Stoffwechselstörungen und Gendefekte. Noch im Jahr 1900 waren es hundertmal mehr Kinder, die jährlich zu Grabe getragen wurden. Jahr für Jahr starben 400.000 Kinder, viele vor Erreichen des sechsten Lebensjahres. Im Grunde war der Kindstod allgegenwärtig und es gab kaum eine Familie, die nicht davon betroffen war. Heute dagegen ist der Tod eines Kindes die große Ausnahme. In unseren Zeiten trifft in Deutschland nur jeder viertausendste Tod ein Kind. Für uns ist es die Normalität, dass Kinder wohlbehalten das Erwachsenenalter erreichen. Das war in anderen Jahrhunderten ganz und ganz nicht so!

Aber früher waren die Menschen nach einem schweren Verlust Teil einer großen Gemeinschaft. Verlust war ein schrecklicher, aber unvermeidlicher Teil des Lebens, den alle erlitten. Selbst die Privilegiertesten blieben nicht verschont. Kaiserin Maria Theresia gebar 16 Kinder, nur 10 von Ihnen erreichten das Erwachsenenalter. Damals bedurfte es keiner Trauergruppen, um der Isolation des Verlusts zu entgehen. Nahezu jeder Mensch kannte schrecklichen Verlust aus eigenem Erleben. Auch damals hat man bitterlich am Sterbebett seines Kindes geweint. Aber der Tod gehörte nun mal zum Leben. Er war mittendrin.

Heute gehört der Tod für die meisten nicht mehr zum Leben. Das klingt verrückt, denn auch heute endet jedes Leben mit dem Tod. Aber unsere enorme Fähigkeit der Verdrängung schiebt heute den Tod weit fort. Zu dir jedoch ist er gekommen und damit bist du nicht mehr Teil der Gemeinschaft der unversehrten Lebensoptimisten. Du bist aus einer vorher stabilen Welt herausgefallen und gehörst jetzt nicht mehr dazu, das prägt über Jahre deine Wahrnehmung. Unsere Vorfahren waren wohl in Vielem unfreier und ausgelieferter, aber sie blieben nach einem Verlust Teil der Gemeinschaft, denn alle kannten Unglück. Es gab Regeln, Rituale und Pflichten, wie damit umzugehen wäre. Das Netzwerk derer, die mit einem lebten, hielt auch in schweren Zeiten. Das Unglück wurde getragen und trotz Schmerz als Schicksal und Fügung akzeptiert. Heute leben wir nicht mehr in großen Familienverbünden und Gemeinschaften, sondern in individualisierten Kleinstfamilien. Die moderne Welt ist mit deiner Trauer überfordert und du fühlst dich zurecht oft allein mit deinem Schmerz.

Deshalb ist es so wichtig, dass du die Isolation überwindest, die der Verlust mit sich bringt. Natürlich ahnen die meisten anderen nicht die Dimension der Zerstörung deines bisherigen Lebens. Und dennoch gibt es Menschen, die Ähnliches erlitten haben. Teile deine Erfahrungen mit ihnen. Es wird ein mühsames Ausprobieren, um herauszufinden, was dir guttut.

Aber bleibe nicht allein.

David Althaus

 
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