Folge 3: Das Erwachen aus der Schockstarre

 

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Der Verlust ändert dein Leben. Anfangs weißt du noch wenig davon. Auch wenn du ahntest, dass der Verlust kommt, trifft dich der Tod unvorbereitet. Jemand kommt und sagt dir, was geschehen ist. Dein geliebter Mensch ist gestorben. Nein, das kann nicht sein. Du bist betäubt und taumelst. Du verstehst das nicht. Du glaubst das nicht. Du schreist, du verstummst. Die Welt müsste jetzt stehen bleiben, aber sie bleibt nicht stehen. Du willst, dass es unwahr ist, ein Irrtum, eine Verwechslung. Du bist ratlos, stehst auf, setzt dich hin, stehst auf, machst irgendwas, räumst die Spülmaschine aus oder kämmst dir die Haare. Du probierst Relikte deines früheren Lebens. Du kochst Tee, Du willst, dass es weitergeht, es muss weitergehen...

Im Nachhinein wunderst du dich, wie es damals möglich war zu funktionieren. Wie konntest du die Menschen anrufen, um ihnen mitzuteilen, was passiert war? Wie die Bestattung und Trauerfeier organisieren? Wie war es möglich, die Weinenden zu trösten? All das gelang dir, weil deine Seele noch in Schockstarre war. Die Frische des Verlusts atmete Gegenwärtigkeit, als könnte ein plötzlicher Windstoß alles fortblasen. Als müsstest du aus diesem Schrecken nur einfach erwachen. Die Welt um dich tobte, aber jemand hatte den Ton abgestellt. Du wusstest, dass eine Katastrophe geschehen war, aber sie blieb unwirklich. Wenn jemand vor dir herzzerreißend in Tränen ausbrach, streifte dich kurz die unerträgliche Verzweiflung der anderen. Ein Bruchteil dessen, was vor dir lag.

Du dachtest damals, das wäre der Nullpunkt, den du jetzt irgendwie überleben müsstest. Aber es war nur der Beginn einer langen Wanderung. Deine Seele schützte dich im Moment der Katastrophe, sie filterte, betäubte und wehrte ab. All das war überlebenswichtig, sonst hättest du den Tod des innig verbundenen Menschen nicht überlebt. Du sahst anfangs nur einen winzigen Ausschnitt. Das gab dir die Kraft, das Notwendig zu tun: Den geliebten Menschen zu verabschieden, die Dinge zu regeln. Wochen später müsste es besser werden. Hattest du gedacht, hatten auch die anderen gedacht. Aber es wurde nicht besser, sondern es wurde wirklicher und damit schmerzhafter. Die anderen, die mit dir getrauert haben, setzen ihr Leben fort, aber du selbst bleibst zurück im Verlust. „Du musst nach vorne blicken“, sagten die anderen, aber wie solltest du das tun, wenn du noch gar nicht begriffen hast, was überhaupt geschehen ist. Dein Leben war jetzt ein Überleben.

Um dein weiteres Leben zu finden, musst du aus der Schockstarre erwachen. Doch das geschieht nur allmählich. Nach einem schmerzlichen Moment des Verstehens taucht deine Seele wieder ab. Du glaubst es immer noch nicht. Wer geduldig wartet, wird am Ende belohnt. Ist das nicht immer so? Du suchst und wartest monatelang, doch die Belohnung bleibt aus. Jetzt, wo alle denken, es ginge bergauf mit dir, kommen Wellen der Verzweiflung, Sehnsucht und Wut. Unfassbar intensiv und oft weißt du nicht, wie du es aushalten kannst. Du bist jetzt angekommen in der Mitte deines Verlusts. Du bist untröstlich und glaubst, so wie jetzt würde es immer bleiben.

Aber glaube mir, es wird sich verändern. Vielleicht anders als du denkst. Und vielleicht auch schmerzhaft langsam. Du bist auf dem richtigen Weg. Traue dich, aus der Schockstarre zu erwachen und dem Schmerz zu begegnen.

Es ist nur eine Etappe auf deinem Weg in dein neues Leben.


David Althaus

 
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