Folge 7: Die Schwingungen der Trauer
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Wer bist du eigentlich? Wer warst du vor deinem Verlust? Und wer bist du jetzt? Die Antwort ist nicht einfach, denn wir Menschen sind so vieldimensional. Wir sind nicht nur das eine wahre ICH, das in jeder Situation konstant durchs Leben geht. Das, was wir als ICH bezeichnen, ist wandelbar, passt sich ständig an und ist so vielschichtig, dass es uns manchmal ratlos macht. Wer bist du wirklich? In dir wohnt Besonnenheit, aber auch Impulsivität, Freundlichkeit wie Aggressivität, Dankbarkeit wie Enttäuschung, Klugheit wie Überheblichkeit. Und überall bist du ein wenig anders: als Elternteil, Partner, im Beruf, in Freundschaften, als Kind, im öffentlichen und privaten Leben. Jede dieser Rollen bringt je nach Situation andere Facetten von dir zum Vorschein. Und oft spürst du dabei eine Fülle unterschiedlicher und manchmal sogar widersprüchlicher Empfindungen. Wie soll man das alles in einer Person vereinen?
Durch den Verlust des geliebten Menschen ist eine neue bedeutsame Dimension in dein Leben gekommen, die auch all die anderen Bereiche beeinflusst. Du bist nun ein trauernder Mensch. Aber auch in deiner Trauer bist du nicht eindimensional, sondern du erlebst eine Fülle an Gefühlen. Verzweiflung, Sehnsucht, Scham, Schuld, Wut, Angst, Hoffnungslosigkeit, Liebe oder Resignation. Nach Tagen des Weinens kann es geschehen, dass sich vieles plötzlich bessert. Dass du ruhig wirst und dich sogar gut fühlst. Das ist verwirrend, denn äußerlich gesehen hat sich nichts Wesentliches verändert. Dein geliebter Mensch ist immer noch tot. Dennoch wirst du gerade nicht von Wellen der Verzweiflung überspült. Und wenige Tage später, bist du dann wieder mitten im Schmerz, ohne zu wissen warum und ohne es kontrollieren zu können. Gerade zu Beginn deiner Trauer bist du diesem Hin und Her oft hilflos ausgeliefert, und erst nach und nach lernst du, dass du diesen Prozess auch selbst beeinflussen kannst. Dass du selbst mitentscheidest, wann du dich dem Verlust zuwendest und wann nicht.
Und da kann es dann Momente geben, da schiebst du deinen Verlust regelrecht von dir fort. Weil du arbeiten gehst oder einfach funktionieren willst, oder weil du eine Pause brauchst. Es ist ein bisschen so, als würdest du eine Auszeit von deiner Trauer nehmen. Heißt das, dass der Verlust dir jetzt nichts mehr ausmacht? Oder dass es jetzt langsam besser wird und du dich daran gewöhnst? Das stimmt so nicht. Denn auch dieses Fortschieben des Verlusts gehört zur Trauer. Die Fokussierung auf etwas anders ist wichtig, auf eine Arbeit, auf ein Buch, auf einen Film oder auf eine Reise. Auf das Bild, das du malst, auf den Pullover, den du strickst. Auf Musik, die Natur oder die Begegnung mit anderen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, dich aus dem Fokus des Verlusts zu lösen und anderen Dingen Platz zu geben. Welche zu dir passen, musst du selbst herausfinden.
Wissenschaftler nennen diese Schwingungen, dieses Auf und Ab im Erleben das „duale Prozessmodell der Trauer“. Sie haben beobachtet, dass trauernde Menschen sich gerade entweder dem Verlust hingeben, tief in der Erinnerung an die verstorbene Person sind und dabei auch viel Schmerz erleben. Oder dass sie sich davon ein Stück weit lösen, dass sie sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, und dass sie das Geschehene ein Stück weit ausblenden oder sogar verdrängen, um die Möglichkeiten von Gegenwart und Zukunft zu erleben. Trauer, so sagen sie, ist ein Prozess, in dem die Menschen immer wieder zwischen diesen Polen hin und her pendeln. Die einen sind mehr in der verlustbezogenen Vergangenheit, die anderen mehr in der ressourcenbezogenen Gegenwart und Zukunft. Aber pendeln tun im Grunde alle. In jedem einzelnen Menschen gestaltet sich das anders, und sogar Eltern, die um das gemeinsame Kind trauern, sind oft nicht in der gleichen Schwingung der Trauer. Das macht es für dich ganz sicher nicht leichter. Erlaube dir dennoch, dich von den Bewegungen deiner eigenen Trauer tragen zu lassen und lerne selbst zu gestalten, wann und wie du dich dem Verlust näherst und dich von ihm abwendest.
Die Schwingung ist Teil deiner Trauer.