Erdbeerzeit
Jeden Sommer, mitten im Juni, ging es mit den beiden Kindern raus aufs Erdbeerfeld. Ich sehe es vor mir. Die Münder und die Beine rot vom Saft und den Erdbeergeschmack im Mund, machen wir uns in der Hitze gemeinsam auf die Suche nach den schönsten Früchten. Wenig später rühre ich schwitzend im rosarot brodelnden Kochtopf in der Lieblingsmarmelade meiner Familie und wippe dazu im Rhythmus der Musik. Der betörende Duft holt mich zurück in die Küche meiner Kindheit und ich sehe mich selbst wohlig an der Seite meiner Mutter in den Topf lugen. Nur sind es nun meine Kinder, die um mich herumschleichen und strahlend Löffel ablecken. Und das gut gefüllte Marmeladenregal wirkt auch im Winter wie ein Sommergruß. Wie in Leo Lionnis Bilderbuch, in dem die Maus Frederick wärmende Sonnenstrahlen für die anderen „Mäusegesichter“ sammelt, für die kalten, dunklen Wintertage.
Diese gemeinsamen Erlebnisse sind Vergangenheit. Mit dem Tod meiner Tochter haben sie ihre Unbeschwertheit verloren. Einst alltägliches Tun ist zu kostbaren, wehmütigen Erinnerungen geronnen. Auf diese Bilder zu blicken, tut weh. Trotzdem gehört das Sammeln und Einkochen von Erdbeeren für mich immer noch zum Sommer.
Und so stehe ich auch dieses Jahr wieder am Kassenhäuschen des vertrauten Pflückfeldes und stelle meine gefüllten Schüsseln auf die Waage. Das herzliche Begrüßungslächeln des neuen Erdbeermannes und seine skurrilen Scherze klingen noch in mir nach – in ihrer netten Verschrobenheit hatten sie meine düsteren Gedanken beim Sammeln ein wenig aufgehellt. Nun fragt er mich erwartungsvoll: „Möchten Sie vielleicht ein Gedicht von mir hören?“, und wieder muss ich schmunzeln. Ein Dichter im Erdbeerfeld? „Es ist eine Welturaufführung, eben erst geschrieben, Sie sind die erste, die es hört.“ Und schon rezitiert er sein Gedicht über ein Erlebnis vom Vortag aus dem Kassenhäuschen heraus. Ein wenig kommt mir der Erdbeermann dabei vor wie Frederick aus dem Kinderbuch, der für seine „Mäusegesichter“ zum Dichter wird. An der Verkaufstheke lehnend, lausche ich den liebevoll formulierten Versen und spüre dabei die echte Freude des Erdbeermannes an einem kleinen Geschenk in Form eines schönen Stückchens Erdbeertorte. Das hatte ihm eine Frau zum Dank für seine Hilfe in ihrer „Erdbeernotlage“ in Aussicht gestellt und dieses Versprechen dann auch gehalten.
Nicht um etwas Weltbewegendes drehte sich also das Gedicht, sondern um ein Alltagserlebnis, aber eines von der netten Sorte, voller Freundlichkeit und Überraschung. In diesem Moment wird mir wieder einmal bewusst: Gerade die scheinbar kleinen Erlebnisse werfen nach meinem schweren Verlust immer wieder Lichtstrahlen in meinen Alltag. Und wenn es auch nur für einen kurzen Augenblick sein mag – oft sind es zufällige, ulkige Momente, in denen ich spüre, dass das Leben doch noch ganz schön sein kann. Auch wenn er es vermutlich gar nicht ahnt, hat mir der Erdbeermann einen solchen Augenblick geschenkt. So wie das Frederick bei seinen „Mäusegesichtern“ mit der Erinnerung an die Sonnenwärme, mit Farben und Worten geglückt ist.
Der Erdbeermann heißt übrigens Herr Knopf. Besser könnte man sich das gar nicht ausdenken. Und unser Kellerregal ist jetzt wieder gut gefüllt mit Marmeladengläsern, für die langen, kalten und dunklen Wintertage.
Birgit Kröniger