Mein Freund das Auto

 
 

Das klingt seltsam, denn das Auto hat gerade keinen guten Leumund. Der PKW gilt vielen als Quelle moderner Probleme. Beispiele sind Lärm- und Feinstaubbelastung, schmutzige Produktion, Klimaerwärmung und Artensterben durch immer weiteren Ausbau des Straßennetzes. Gerade wird heftig über das endgültige Aus des Verbrenners diskutiert. Dabei brauchen wir das Auto heute mehr denn je. Nicht als Fortbewegungsmittel, dafür kann man auch mit dem Fahrrad oder Zug fahren. Wir brauchen das Auto als Freund, als persönlichen Rückzugsort, als Therapieraum, als Ruheort der Einkehr und Intimität. Gerade in der Trauer scheint das Auto fast unersetzlich.

Bei einem Seminar habe ich verwaiste Väter gefragt, wo ihnen ihr verstorbenes Kind besonders nah wäre. Es war bei vielen weder Friedhof noch Fußballplatz oder Garten, sondern das Auto. Im Auto hätten sie viele Erinnerungen an ihr Kind, hier fühlten sie sich unbeobachtet, hier würden sie die Musik hören, die sie mit ihrem Kind verbindet, hier würden sie Gespräche mit dem Verstorbenen führen und sich trauen zu weinen. Allein, geschützt, intim, ganz bei sich. Das gilt umso mehr, wenn man versucht in der Welt draußen weiter zu funktionieren. Das gilt übrigens ganz natürlich auch für Frauen. Nach der Teambesprechung, nach dem Einkauf im Supermarkt, nach dem Kundentelefonat, nach dem Elternabend. In der Trauer spielt die Fähigkeit der emotionalen Kontrolle für viele eine wichtige Rolle. In der großen Mehrzahl der Situationen will man nicht von den eigenen Gefühlen überrollt werden. Bloß nicht losheulen vor den Kollegen, oft will man das auch nicht vor dem Partner oder den eigenen Kindern. Das Auto ist dann ein Ort emotionalen Ausgleichs, wo man loslassen darf.

Aber nicht nur für die persönliche Gefühlsregulation spielt der PKW eine wichtige Rolle. Auch als therapeutischer Raum scheint er von besonderer Qualität. Vom Schmerz und den eigenen Gefühlen zu sprechen, ist oft schwierig. Vor allem, wenn man sich auf zwei Stühlen gegenübersitzt und der Blick des anderen schwer auf einem lastet. In der Belanglosigkeit der gemeinsamen Autofahrt entsteht oft die Möglichkeit, endlich von dem zu sprechen, was die Seele wirklich bewegt. Im Auto gibt es keinen Blickkontakt, auch ein langes Schweigen ist kein Problem. Man hat gemeinsam Zeit, und gerade in dieser Stille kann man beiläufig das Wesentliche sagen: „Ich habe heute Nacht von Luzie geträumt, und sie hat mir gesagt, dass es ihr gut geht.“ Wo könnte man so einen Satz besser loswerden als im Auto? Da kann er einfach mal so stehen bleiben. Man darf auch still vor sich hin weinen. Niemand beobachtet einen scharf. Jeder ist für sich und doch gemeinsam. Niemand muss was tun. Das Gespräch kann damit zu Ende sein, es kann aber auch weitergehen, solange man gemeinsam im Auto sitzt.

Vor allem Kinder nutzen oft die Möglichkeit, im Auto Wichtiges mitzuteilen oder zu fragen. „Mami, es ist eigentlich sehr schade, dass ich sterben muss…“ „Und wo werde ich dann sein?“ „Und wenn ich dann tot bin, wann kommt ihr nach?“ Das sind sehr große Themen, und man ahnt, dass man die kaum an einem Tisch besprechen kann. Aber im Auto schon. Es gibt wahrscheinlich fast keinen besseren Ort, um das Unaussprechliche in Worte zu fassen.

Wer mal mein Auto leihen will, weil ein dringendes Gespräch mit jemandem ansteht, darf sich gerne an mich wenden. Auch ein richtig schöner Stau kann dabei zusätzlich helfen. Nur zu, probieren sie es einfach mal aus.

David Althaus

 
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