Brief an meine Freunde

von Christel Gahse

“Das ist ein Brief an mir wichtige Menschen, den ich zweieinhalb Jahre nach dem Tod meines Sohnes Lorenz geschrieben habe. …runtergeschrieben, so wie es mir spontan in den Sinn kam.

Lorenz ist mit 17 Jahren in den Bergen abgestürzt.”

Hallo ihr Lieben,

Ich habe das Bedürfnis euch allen ein bisschen von meinen zwei letzten Jahren zu erzählen. Nein, nicht, dass ihr mich verstehen sollt – es ist mehr ein „mit euch teilen wollen“.

Lorenz ist tot und er fehlt mir sehr, seine Art, sein Dasein, die gemeinsamen Dinge, seine Entwicklung zu begleiten, seinen Platz in unserer Familie. Die Tage oder Zeiten sind wie Wellen und unberechenbar. Gegensätze toben in mir, „raus gehen oder Rückzug“, „was sagen oder still sein“, was brauche ich…? Ich weiß es nicht? Und ich weiß nicht, wo es langgehen soll. Wo ist der Sinn?

Wenn man auf diese Art und Weise mit dem Tod in Kontakt kam wie ich, dann ist die Welt nicht mehr die Welt. Vom Weltgeschehen wollte und konnte ich gar nichts wissen. Und auch nicht von euch. Ein Jahr lang blieb der Fernseher für mich aus. Es ging ums „Überleben“. Ich komme mir auch heute noch „nicht dazugehörend“ vor. Manche Gespräche kommen mir total unwichtig vor, weil andere Dinge in mir umgehen. Da kann mein Gegenüber nichts dafür, es ist einfach so. Die Frage „wie geht es dir“ gehört nach wie vor nicht zu meinen Lieblingsfragen. Ich meide sie.

Lange Zeit sehnte ich mich nach jemandem, der mir zur Seite steht, ein Stück gemeinsam mit mir geht. Ich wollte „gesehen“ werden, und Lo. (Lo.renz) sollte nicht vergessen werden. Ich wollte über ihn reden, aber wie macht man das? Dazu kamen die Alltagssachen mit Helmut, meinem Mann und Leo, meinem Erstgeborenen, die mich noch viel mehr beschäftigten. Ich wollte Erinnerungen bekommen, weil ich sie selbst verloren hatte, bekam jedoch keine. Ich war verzweifelt, dass das Leben „draußen“ weiter ging wie eh und je. Das kann doch nicht sein!

Ich löste mich von Vielem, versuche, gut mit mir umzugehen. Ich weiß, dass ich einerseits bewusst leben, nachdenken und meine Seele beachten möchte. Andererseits tut es mir gut, mich immer wieder zu erden und handfeste Dinge zu tun. Alles was ich mit den Händen tue, tut meiner Seele gut. Ich suche noch nach Wegen, diese zwei Bereiche zu verbinden.

Ja, anfangs gab es sehr viele Worte von euch allen und Fotos und Berichte und seine Musik. Für mich waren dies Bereicherungen und eine Verbindung zu Lorenz – für Helmut zu schmerzhaft und nicht aushaltbar. Ich lese Bücher, male mir ein Bild aus, was mit seiner Seele passierte und sah ihn in Watte liebevoll eingepackt, wohlig umsorgt in den tollsten Himmelformationen. Jede Träne tat gut. In der Zeit ging ich gerne in den Wald bei uns, zu den Buchen, unter die ich mich legte und nach oben schaute. Manchmal war da ein Frieden in mir, aber auch Wut und ich schrie dann ganz laut „Warum bist du so losgezogen?“, Wut – auch auf das Schicksal – warum darf ein so junger Mensch nicht länger hier leben? „Dankbar“ – ein Fremdwort für mich.

Ich wollte nicht, dass Zeit vergeht, denn dann rückte ja all die gemeinsam erlebte Zeit immer weiter weg. Ich glaube, ich habe das Ganze noch nicht „begriffen“. („Ich will, dass du am Sonntag nach der Tour mit dem Zug wiederkommst“). Es war dann in mir, wie wenn Lorenz klingelt und mit seinem Rucksack auf dem Buckel vor der Tür steht.

Zu Hause trauere ich alleine. Ich schreibe mega viel und bin am Abend erschöpft und kraftlos. Das, was passiert ist, zehrt und zerrt an mir. Immer wieder geht die Schleife in meinem Kopf los. Ich sage euch, das macht platt. Und ich bin noch dabei. Das Zusammenleben zu dritt ist sehr durcheinander und teils nahe dem Zerbrechen.

Anfangs fühlte ich mich energiegeladen, irgendwann voll schlapp, müde und ich wollte an den freien Tagen morgens mein warmes Nest im Bett nicht verlassen. „Nur nicht raus hier – einfach liegenbleiben“.

Hier sind ein paar Situationen, die all das vorher erwähnte, näher beschreiben und zeigen, wodurch sich etwas so und so anfühlte und auslöste. Es möge bei euch ein schlechtes Gewissen machen, doch so ist es nicht gemeint. Ich werde sehen, wie ich damit umgehe, … wenn eine Freundin von ihrer ins Ausland reisenden, jugendlichen Tochter erzählt oder wenn der Neffe mit 18 Jahren dann endlich alleine mit dem Auto losziehen darf, wenn ich beim Bäcker statt der 4 nur noch 3 Brezen kaufe oder wenn eine Bude für die Kids gesucht wird, weil sie flügge werden. Die Mirabellen zu pflücken, wühlte mich dieses Jahr auf. Ich sehe junge Burschen in der Kletterhalle und denke „der sieht genauso aus wie Lorenz“ und starre den armen Kerl minutenlang an. Mancher Film lässt mich losheulen oder es bricht etwas auf, als ich hörte, dass der Klarinettenlehrer von Lo. starb. Waffeln gab es seitdem gar nicht, Pfannkuchen selten, süssen Griesbrei haben nur wir zwei gegessen.

Zuletzt folgten Wochen in denen ich keinerlei Gefühl habe, irgendwie erstarrt, ein Teil in mir ist tot. Wo ist mein Herz? Dünnhäutig, würde ich mich beschreiben. Und unsicher, ich könnte mir mehr Mut fassen. Aber so langsam kommt Klarheit. Immer noch möchte ich in mir und um mich herum aufräumen, Dinge lesen, nichts mehrnur aus Pflichtgefühl heraus mitmachen, auf mich schauen und mich dem Leben zuwenden. Mal sehen was da so alles kommt.

Und ich habe natürlich auch viel, viel Schönes in dieser Zeit erlebt, allem voran zwei Wochen Senegal, wo ich Lebensfreude pur spürte. Das Singen ist eine große Wohlfühl-Quelle. Ich sah unzählige Sternschnuppen in einer Nacht auf der Isomatte in unbewohnter Gegend auf dem Boden liegend. Die Momente mit euch möchte ich nicht missen. Wie schmeichelte mir das Wasser im See diesen Sommer! Ich erlebte La BrassBanda (Lorenz liebte die fetzige Musik der wilden Kerle, barfuß auf der Bühne) in vollen Zügen und ich habe es zu Hause sehr, sehr gemütlich und schön. Dies alles sind Dinge, die ich mir wie ein Schatz bewahre. Ich sammle die Stimmungen und Erlebnisse für Lorenz, Lollo, Lorenzo.

Lorenz hätte nun schon eine „2 vorne” bei seinem Alter und er hätte sich verändert. Wie wäre er heute? Er hat auch mich verändert. Er hat mich gelehrt, wie wertvoll jeder Augenblick ist, wie nah Leben und Tod beieinander liegen, dass Freude und „traurig sein“ eng zusammen liegen. Er hat mir gezeigt, dass Nichts von Dauer ist, selbst meine liebsten Menschen nicht. In den Bergen sterben ist nicht so schlecht, oder? Auf jeden Fall würde Lorenz wollen, dass es uns gut geht.

Für die schönen Stunden, die ihr mir immer wieder gegeben habt, möchte ich mich von Herzen bedanken.

Für ein „Dazukommen können“ und auch ein „Absagen mir erlauben“ sage ich danke.

Für die Gemeinschaft mit euch, als Teil, bin ich dankbar.

Allen wünsche ich nun schöne Stunden und alles Gute.

Ganz liebe Grüße

Christel

 
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