Bergsteigen – Wandern – Draußen sein

von Christel Gahse

Das erste Bergerlebnis nach dem Tod meines Sohnes Lorenz, der am 26. August 2016 aus seinen geliebten Bergen nicht mehr wiederkam, war eine Woche später. Ich hatte mich zur Watzmann Überschreitung beim Alpenverein angemeldet und wollte das auch machen, weil ich mich stabil fühlte. Kurz danach ist alles noch „gut“, ich fand und empfand viel Nähe und intensivste Momente. Ich „bekam“ noch so viel und ich fühlte mich den Bergen mehr denn je verbunden. Mit der Bergführerin abgesprochen, war ich also dabei.

Viele Dinge in der Vorbereitung liefen genauso ab wie oft bei Lorenz. Um 5.15 Uhr stand ich auf, nahm meinen gepackten Rucksack und fuhr los. Doch dann stand ich unerwartet im Stau. Ich kannte mich auf den Straßen nicht mehr aus, war verzweifelt, soll ich rechts oder links fahren? Schaff´ ich es noch rechtzeitig zur Gruppe? Zurück nach Pasing gerast, in Eile in die Bergstiefel reingeschlüpft, zur S-Bahn gerannt und sie gerade noch erwischt. Uff, dort saß meine Gruppe für dieses Wochenende. Ich fuhr also mit dem Zug, wie mein 17-jähriger Lorenz so oft. Öffentlich fuhr er mit Sack und Pack, weil wir Eltern nicht immer Lust hatten Taxi zu sein und die Absprachen der Jugend nicht immer einfach waren.

Die anderen Teilnehmer erfuhren im Zug von Lorenz´s Tod. Während der nächsten Tage fühlte ich mich von ihnen gut getragen. Ich sagte zu ihnen: „Fragt mich, es gibt nichts Falsches.“ Und: „Es tut mir gut, in den Bergen zu sein – da fühle ich mich Lorenz so nah“.

Philipp, einer aus unserer Gruppe, sagte abends, ich sei angesichts der anspruchsvollen Tour am ruhigsten. Ja, ich spürte Ruhe – aber auch bittere Momente, zum Beispiel, als zwei jugendliche Jungs an mir vorbeispurteten. Mein Magen zog sich zusammen als ich eine Familie sah, die zwei Jungs wie meine beiden Söhne, neben sich hatten.

Beim frühen Aufstieg am nächsten Morgen spürte ich total intensiv die Faszination der Berge: Hey, ich bin in deiner Welt Lorenz, ich bin dir nah. Schau dir diese Gipfel an!

Es ist gut, zu „gehen“ und sich auf jeden Schritt zu konzentrieren. Wo trete ich hin? Wo bin ich? Wie fühle ich mich dabei? Während ich über nasses Gras lief und in feuchte Erde trat, einen Bach durchwatete und von Stein zu Stein hüpfte, fiel mir auf, dass ich die Wanderstiefel meines Sohnes trug. Sie passen. Ich fühlte mich wohl und der Schuh gab mir Halt. Ich musste lächeln.

Es ging lange aufwärts, dann wieder runter und wieder hoch. Oben blickte ich zurück auf den Weg, den wir gegangen sind. Innehalten, sehen, was man bereits geschafft hat, anerkennen. Innerlich hänge ich vielen gewesenen Dingen nach. Trauern ist ein ewiges Auf und Ab. Aber würden wir im Tal bleiben, dann würden wir niemals sehen, was hinter dem Berg auf uns wartet.

Ich steige, ich schwitze, immer weiter, die körperliche Anstrengung, Schritt für Schritt, nach oben wollend, ein Ziel vor Augen, sich den Gipfel erkämpfen --- all das tat mir gut. Eine anstrengende Herausforderung, wie das Trauern! Das einfachste Butterbrot oder ein Stück Käse sind dann ein besonderer Genuss.

Ab und zu kamen mir Tränen, weil ich mir so sehr wünschte, dass Lorenz hier auch noch Berg- und Klettererlebnisse gehabt hätte. Ich konnte die Tränen zulassen, sie durften kullern. Vom Gipfel der Watzmann Südspitze mochte ich gar nicht weg – ich konnte mich am Panorama nicht satt sehen. Alles erschien mir viel intensiver. Ich hatte erst hier eine Vorstellung von der Größenordnung der Berge, die mein Sohn bestieg. Diese gewaltige Größe und anmutige Schönheit! Sie wurde mir erst jetzt bewusst. Es war für mich sehr beeindruckend, manchmal sogar berauschend - so nah, diese erhabenen und majestätischen Massive, aber auch die lieblichen, weichen Hänge.

Am Anfang, kurz nach Lorenz‘ Tod, war ich noch stabil und voller Tatendrang. Solche Wanderaktionen waren kein Problem. Das änderte sich im Laufe der Jahre. Die Bergwelt hat sich verändert und ich mich auch. Permafrost und große Temperaturschwankungen bringen mehr Gefährlichkeit mit sich. Ich höre von zu vielen Bergunfällen. Große Felswände wirken auf mich unbezwingbar und gefährlich, fast abstoßend. Umso wichtiger ist es, im Gebirge achtsam zu sein! Aufmerksam meinen Kammeraden gegenüber, achtsam auf die äußeren Bedingungen, aber besonders achtsam auf mich. Passt es noch für mich oder möchte und brauche ich gerade etwas ganz anderes? Ich möchte gut für mich sorgen. Breche ich ab, bin ich auf dem Rückweg auch mal ganz schön traurig, „traurig sein“ darf sein. Wandern bedeutet aber auch, durchhalten und mir meine Kräfte einteilen, damit ich bei einer längeren Tour gut ans Ziel komme.

Meist gibt es am Ende der Tour im Tal einen Bergbach mit herrlich fließendem Wasser, das lebendig die Steine umfließt und sich seinen Weg sucht. Da ist so viel Bewegung drin, man könnte stundenlang darauf schauen. Fließendes Wasser bedeutet Lebenselixier! Bewegung und Lebendigkeit! (die in meinem Sohn nicht mehr ist). Es erinnert und bringt mich zum Heulen.

Das Gehen gibt mir viel. Sowohl die körperliche Betätigung als auch das Eintauchen in die Natur mit all ihren Gerüchen und Anblicken, den Himmelformationen und Stimmungen sind sehr wohltuend und lohnen zum Anhalten. Mein Sohn zeigt sich in einer kleinen Blume, ich suche ihn in den Wolken. Und sagen mir die im Wind wehenden Blätter der Bäume etwas? Ein Schmetterling setzt sich bei mir nieder, ein Vogel fliegt am Gipfel ganz nah her – ich finde in der Natur viele „Zeichen“. Dabei fühle ich mich mit einem großen Ganzen verbunden, ganz besonders oben im Gebirge, dem Himmel so nah. Am Gipfel stehen hat etwas Göttliches.

Auch zu Hause gehe ich gerne, meist im Wald. Mal mit großer Liebe in mir, mal spüre ich Frieden, ab und zu Dankbarkeit, aber auch Verzweiflung und Wut. Ich schreie dann ganz laut: „Warum bist du so losgezogen? „Warum dieser Tag?“ Und: „Ich bin wütend auf dich, Lorenz!“. Hey, du fehlst mir so sehr! Es tut weh! Dann wechseln sich leises Herabrinnen von Tränen aus den Augenwinkeln, lautes Weinen und Schluchzen, bis zur schniefenden langsamen Beruhigung ab. Es mag seltsam klingen, aber genau das fühlt sich gut an. Ich bin im Gefühl, es kommt etwas aus mir heraus. Ich bin nicht kalt, starr, versteinert und „tot“ oder abgelenkt, zugedeckelt und „gut erzogen“. Es ist, wie wenn das alles zu meiner Trauer dazugehört und mich ein Stückchen weiterbringt. „Draußen“ ist es mir möglich, Gefühle zu zeigen und mich „gehen“ zu lassen.

Kaum etwas eignet sich so gut zum Abschalten und Auftanken wie ein Spaziergang im Wald. Erich Kästner hat es in seinem Gedicht „Die Wälder schweigen“ in folgende Worte gefasst:

Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.

Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden

und tauscht bei ihnen seine Seele um.

Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.

Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.

Manchmal spaziere ich auch mal querfeldein, verlasse die ausgetretenen Pfade, gehe neue Wege, probiere etwas aus und verlief mich auch schon im Wald. Unsere Hündin tollt um mich herum und zeigt mir, was Lebensfreude heißt. Das hebt meine Stimmung und die Schwere des Alltags ist kurz verflogen. Tut gut. Für eine Idee, die unerwartet kommt, habe ich stets einen kleinen Block und Bleistift dabei.

In Stille gehen ist heilsam. Auf jeden Fall verändert das Gehen meine Stimmung. Dies geschieht einfach. Ich komme anders zurück, als ich gegangen bin. Das macht mich zufrieden.

Ich habe mal gesammelt: Die Wärme der Sonne, der Wind in meinem Gesicht, die Weite der Bergwelt oder Felder, Schweißperlen an meiner Schläfe, der kreisende Adler oder die pfeifenden Murmeltiere, Gämsen die beim Sprung über Felsen Steine lostreten, der Duft von Wildkräutern, Kühe beobachten, das Plätschern des Wassers, der Geruch nach frischem Heu – all das regt meine Sinne an.

Es kann passieren, dass es mich von einem Moment auf den anderen überkommt. Dann spüre ich eine Art Krampf im Bauch, Atemnot oder Erschöpfung. Ich bin kurzzeitig orientierungslos. Manchmal habe ich Momente, die mich gedanklich zurückkatapultieren und innehalten lassen. Ein Erinnerungsstück, ein Lied, ein Geruch, ein bekannter Satz aus dem falschen Mund. Und schon ist sie wieder da: Diese Schwere auf der Brust. Dieses flaue Gefühl im Magen. Tränen in den Augenwinkeln.

Es kommen mir Lieder in den Sinn und ich singe innerlich „Weit weg“ von Hubert von Goisern oder die Passage „den Boden spüren – den Himmel atmen“ aus „Zusammen wachsen“ von der Kati Stimmer-Salzeder. „Tears in heaven“ ist auch dabei. „Tears in heaven“- Tränen im Himmel“! Wenn es regnet, denke ich manchmal „der Himmel weint“. Wenn es regnet, kann manche Träne von mir leichter fließen.

Ab und zu habe ich beim Wandern das Gefühl, dass ich von irgendwoher Energie bekomme. „Hey, da ist doch wer – das Steigen würde mir aus eigenen Stücken doch nicht so leicht fallen!?“. Ich lade Lorenz manchmal ein, mich bei einer Tour zu begleiten, dabei zu sein. „Was haben wir draußen zusammen schon Schönes erlebt!“, „Was hat Lorenz gerne gemocht?“

Gehen kann ich immer und überall, bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit. Manche Orte, Landschaften und Gegenden suche ich bewusst aus, es sind Orte, an denen ich Kraft tanken kann. Einfach laufen, in die Landschaft schauen, Schritt für Schritt. So gehe ich weiter mit Lorenz bei mir wissend. Einatmen – ausatmen. Ich mache mich weiter auf den Weg, auf den Weg in der Natur und auf meinen weiteren Lebensweg.

Ich sammle Steine, Hölzer, Landschaften, Eindrücke, Stimmungen, Momente, Gefühle – intensivst – für mich und mit der Vorstellung sie eines Tages meinem Lorenz, Lollo, Lorenzo mitzubringen.

 
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