„Manche denken, nach einiger Zeit müsste es besser werden”

Wie macht man weiter, wenn das eigene Kind stirbt? In München gibt es einen Verein, in dem Betroffene ihre Erfahrungen teilen können. Über einen Schmerz, der nie vergeht, und die Kraft, die Gemeinschaft geben kann.

Du mögest leben

Man will nicht darüber reden, nicht einmal daran denken, und es schon gar nicht am eigenen Leib erfahren müssen: dass das eigene Kind oder andere geliebte Menschen sterben. Für Doreen Zimmermann blieb damals die Zeit stehen, als sie erfuhr, dass ihre beiden Töchter, neun und elf Jahre alt, gewaltsam ums Leben gekommen waren. Sie konnte es nicht begreifen. Sie watete durch ein dumpfes Leben im Nebel, alles in Zeitlupe, war einfach aus dem Orbit katapultiert. Heute ist die 46-Jährige Geschäftsführerin und „die Seele” eines Vereins, der Menschen auf diesem schweren Weg unterstützt, sie zu Aktivitäten animiert und sie zumindest für winzige Augenblicke das Leid vergessen lässt, vielleicht jedenfalls. „Vivas” lautet der lateinische Name dieses Vereins:
Du mögest leben.

 

Unterstützung für verwaiste Eltern: Birgit Kröniger, Psychologe David Althaus und Doreen Zimmmermann.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

 

„Und wenn ein Kind stirbt, ist es, wie wenn ein Teil von uns stirbt.”

 

Einen ziemlich kreativ-kunterbunten Therapieraum hat sich der Psychotherapeut David Althaus im Dachgeschoss einer alten Villa in Dachau eingerichtet.

Ein riesiger Ficus streckt seine Äste in den Raum, daneben Nischen mit expressionistischen Bildern, unterm lichten Dach gedeihen Hängepflanzen und Orchideen.

Der 58-Jährige ist Dreh- und Angelpunkt bei der Vereinsgeschichte von Vivas, er hatte die Idee, trauernde Menschen zu vernetzen.

Althaus weiß, wie man das Unfassbare in Worte fasst. Im Februar 2021 saß er vor der 1. Schwurgerichtskammer am Landgericht München I. Das Gericht wollte sich nicht nur mit dem Mann auseinandersetzen, der auf der Flucht vor der Polizei als Geisterfahrer mit 125 Kilometern pro Stunde auf der Fürstenrieder Straße einen Buben erfasste und tötete, es wollte auch den Eltern des 14-jährigen Max eine Stimme geben.

Sie wollten dem Todesfahrer, der später wegen Mordes verurteilt wurde, nicht in die Augen sehen. Für sie sprach David Althaus.

„Sie werden für immer gezeichnet sein”, sagte Althaus in der Verhandlung. Die Eltern hätten am Unfallort ihres Sohnes ein Trauma erlitten, „eine Situation, die zu groß ist, als dass wir Menschen das in dem Augenblick fassen können".

Das Trauma zu behandeln, sei vergleichsweise einfach. Viel schwieriger sei, dass die Familie über die Jahre lernen müsse, „ohne Max weiterzuleben". Kinder seien Teil der eigenen Identität.

„Und wenn ein Kind stirbt, ist es, wie wenn ein Teil von uns stirbt.” Aber wie kann man als Eltern diesen Verlust überhaupt überleben? Weiterexistieren? Weiteratmen?

 

Kerzen, Blumen, Stofftiere: Eine Mahnwache erinnerte an den bei einem Raser-Unfall getöteten 14-jährigen Max.

(Foto: Lino Mirgeler/dpa)

 

Das Leben trägt dich dahin”

 
 

Für Birgit Kröniger war es „ein Sturz ins Bodenlose”, als ihre Tochter 2020 im Alter von 14 Jahren starb. Von morgens bis nachts „hat der Tod auf mich eingehämmert”.

Es habe Jahre gedauert, bis sie „gute Bilder” aus ihrer Erinnerung hervorkramen konnte. Heute lächelt sie leise und erzählt, wie sie beim Stand-up-Paddeln am Ammersee mit gleichgesinnten Leidensgenossen nur in strahlende Gesichter geblickt habe.

„Es ist ein gewaltiger Schritt, sich selbst Freude zuzugestehen.”

Damit wäre man wieder bei David Althaus. Eher zufällig rutschte er 1999 in ein Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit dem Titel „Kompetenznetz Depression Suizidalität”. Mit dem Thema, sagt er, „hatte ich eigentlich nichts am Hut. Aber das Leben trägt dich dahin”. Er betrachtete das Thema anfangs rein wissenschaftlich, wurde zu Vorträgen eingeladen, und 2003 folgte das erste Seminar. Eltern mit schweren Verlusten kamen in seine Praxis, und es wurden immer mehr. Heute ist er spezialisiert auf die Begleitung von Menschen nach schwersten Verlusten. Viele Kollegen täten sich mit dem Thema schwer, meint er, „denn Trauer kann man nicht weg therapieren”. Und die Wucht trauernder Menschen sei auch für Profis oft schwer auszuhalten. Heute weiß Althaus, wenn etwas Schlimmes in München passiert, wie etwa das OEZ-Attentat, dass vermutlich seine Hilfe benötigt wird.

In all den Jahren der Arbeit mit Tod und Verlusten hat David Althaus von seinen Patienten gelernt. „Sie haben mir beigebracht, was in bestimmten Situationen der Therapie gut ist und was nicht.” Durch die Arbeit sei eine intensive Nähe entstanden, durch das Teilen der schlimmsten Emotionen, aber auch durch die allmählichen positiven Veränderungen, die irgendwann einträten. Die Menschen seien ihm ans Herz gewachsen. „Aber mir war klar, dass ich nicht alle zu meinem Geburtstag einladen kann”, sagt er etwas scherzhaft. Er wusste, dass der Austausch unter Betroffenen essenziell ist, also gründete er den Verein Vivas – und vernetzte die Menschen untereinander.

 

Wer eine Idee hat, macht Vorschläge, lädt zu sich nach Hause ein oder zu einem Event.

 

„Wir können wirklich viel miteinander lachen, aber ein Spaßverein sind wir nicht”, sagt Doreen Zimmermann. „Aber auch keine Trauergruppe”, findet David Althaus. Grundidee sei, dass Menschen gute Dinge miteinander erlebten. Das kann beim Brotbacken mit Klaus sein, bei Kalligrafie mit Birgit oder beim Angeln mit Christian. Rund 160 Aktivitäten listet der Verein in einem Jahr. Und das muss nicht der große Wandertag mit hundert Leuten sein. Drei Teilnehmer etwa hatten Lust, auf die Mineralienmesse zu gehen. „Alle waren happy”, erzählt Althaus. „Die Arbeit von Vivas kommt aus den Menschen selbst.” Wer eine Idee hat, macht Vorschläge, lädt zu sich nach Hause ein oder zu einem Event.

 

Außergalaktisch gut: Andreas Kümmert bei seinem Auftritt für die Mitglieder des Vivas-Vereins.

(Foto: Robert Haas)

 

Es tobt das Leben. 
Ausgerechnet.

 

„Heute ist der außergalaktische Andreas Kümmert zu Gast”, verkündet David Althaus an einem Novemberabend des vergangenen Jahres in der Gräfelfinger Friedenskirche. 2013 gewann der Typ mit Bart und Latzhose die Castingshow The Voice of Germany, sollte 2015 beim Eurovision Song Contest für Deutschland antreten, und zog, gepeinigt von Panikattacken, zurück. Heute performt er für Vivas, der Vater von Max hat die Technik für das Konzert organisiert. „Meine Leute sind auch außergalaktisch”, sagt Althaus am Mikrofon, „sie wurden aus dem Orbit geschleudert." Und dann passiert beim Konzert, was man nicht vermutet hätte: Das Publikum ist kein tranig-sattes, es wird geklatscht, gejohlt, es tobt das Leben. Ausgerechnet.

 

Greifen kann man lange nicht, was passiert ist"

 

„Greifen kann man lange nicht, was passiert ist”, erzählt Doreen Zimmermann. Vor allem in den ersten Monaten gehe es nur ums „die zeitliche Dimension ist eine andere". Fahrradfahren unmöglich, viel zu schnell, jede rasche Bewegung sei zu viel gewesen, Kochen unmöglich, "ein Jahr lang Pizza-Gorgonzola-Diät", nennt es Zimmermann. Der erste Todestag drohte, "es war, als würden die Kinder noch mal sterben". Erst im dritten Jahr habe sie begriffen, was die Worte bedeuten: nie wieder.

Birgit Kröniger erzählt, dass ihr Umfeld anfangs mit großer Anteilnahme reagiert habe. „Aber irgendwann gehen die Menschen zur Tagesordnung über.” Nach dem Tod ihrer Tochter haben sich einige Freundschaften intensiviert, andere sind kaputtgegangen. Trauernde auf ihrem langen Weg zu begleiten, erfordere Geduld, sagt sie. „Dabei ist die Würdigung des Verlustes enorm wichtig, um sich anerkannt und respektiert zu fühlen.” Und diesen Respekt erfahre sie bei Vivas. Weil „nur einfach da sein”.

Während der Aktivitäten spüre sie eine Leichtigkeit und zugleich eine Tiefe. „Wir erzählen uns die härtesten Dinge und wir lachen auch herzlich. Das trägt mich”, erzählt sie. Durch den Verlust ihrer Tochter sei sie auf sich selbst zurückgeworfen worden, „auf das, was man ist”. Sie habe gelernt, sich über kleine Dinge, Gesten zu freuen, „das konnte ich früher nicht so gut”. Materielles sei für sie nicht mehr wichtig.

 

Und wenn das Wort Tod fällt, kippt hier keiner um”

 
 

Bei Vivas profitieren die frisch Betroffenen von Menschen mit Trauererfahrungen; letztere von dem Gefühl, anderen helfen zu können. „Man muss nicht alles immer von Anfang an erklären”, sagt Doreen Zimmermann. „Und wenn das Wort Tod fällt, kippt hier keiner um.”

Einzelne Phasen der Trauer will Therapeut David Althaus gar nicht verallgemeinern. Zuerst natürlich der Schock, das Unwirkliche, das Abgeschnittensein von jeglichen Emotionen. Dann werde es sehr individuell: die Dauer, bis man erfasse, was der Verlust bedeute. Eine stabile Phase, die durch einen Jahrestag wieder zerschmettert wird. Einen Plan gebe es nicht. „Gute Trauer ist Hinwendung zum Verlust, aber auch Ablenkung und Verdrängung", sagt Althaus. Wer nur verdränge, „verliert einen Teil von sich selbst”.

Der existenzielle Verlust teilt das Leben ohnehin in ein Davor und Danach. „Ich hatte ein altes Leben, in dem meine Tochter eine große Rolle gespielt hat”, sagt Birgit Kröniger. In ihrer Trauer gehe es darum, weiterhin einen guten Platz für ihre Tochter und die Erinnerungen an das gemeinsame Leben zu finden. Dabei müsse sie austarieren, wie viel sie von dem alten Leben in die Zukunft mitnehmen könne, "ohne mich aufzugeben". Kleine Rituale können helfen, die Verstorbenen auch weiterhin zu würdigen. „Nur das Alte wegzuschneiden, ist nicht die Lösung”, meint Althaus.

Überhaupt Lösung. Ein Wort, das man nach so einem Verlust aus dem Wortschatz streichen muss. „Manche denken, nach einiger Zeit müsste es besser werden”, erzählt Althaus. Aber der geliebte Mensch komme ja nicht zurück. Es gebe keine Rückkehr ins alte Leben, man könne nur lernen, mit dem Verlust zu leben. „Man muss wagen, sein Leben neu auszurichten, sonst droht man, in Traurigkeit zu erstarren.”

 

Wenn es einem schlecht geht, kann man jemand anrufen”

Doreen Zimmermann kennt das. „Man will den Schmerz nicht haben", sagt sie, „ihn anzunehmen, ist eine verdammt große Aufgabe.” Und bei Vivas lernten die Menschen, zu akzeptieren, dass das nun ihr Leben sei. "Ein Leben mit dem Verlust, ein Leben, das manchmal von der eigenen Todessehnsucht geprägt ist, aber auch vom Willen weiterzuleben.”

Diese Extremerfahrung schweißt die Mitglieder von Vivas zusammen. Wenn es einem schlecht gehe, erzählt Birgit Kröniger, könne man jemanden anrufen. „Da muss man nicht viel sagen, der andere „da passiert etwas Großes, wir werden immer verbunden bleiben”.

Doreen Zimmermann hat damals für ihre Töchter ein letztes Mal Kleidung und Spielsachen herausgesucht, die die Mädchen gerne „Das Gefühl der Liebe bleibt, auch wenn ein geliebter Mensch stirbt.”

 
 

Quelle: Wimmer, S. (2024, 3. Januar). München: Der Verein Vivas bringt Eltern zusammen, deren Kinder verstorben sind. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/vivas-kinder-sterben-verein-david-althaus-eltern-1.6327773

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