Mein Auto weint
Es fing an mit einem Tropfen. Einem kühlen, kleinen Spritzer aus dem Nichts. Fast wie eine Erfrischung. Aber dann auch wie etwas, was hier nicht hingehört. Für einen genaueren Blick zur Seite, nach rechts, dort, wo der Sitz schon wieder leer ist, bleibt zunächst keine Zeit. Und dann doch erneut: ein Tropfen. Ein Spritzer, der die rechte Hand, später auch mein Knie erwischt. Ein Tropfen, der nicht wirklich stört. Und dann wieder. Jetzt ist es ein Tropfen, der verstört. Es ist immerhin ein Raum, der seltsam entrückt und abgeschottet wirkt. Kaum ein Geräusch, das von draußen ins Innere dringt. Nur das ruhige Brummen, und ein Rauschen im Fahrtwind. Nässe, hat im Fahrzeuginneren nichts zu suchen. Es ist die Hülle aus Glas, Metall und Distanziertheit zum Geschehen da draußen, die mir für den Moment Ruhe schenkt. Ein Ort, geschützt vor dem hektischen Drängeln, Beschleunigen, vor den Erschütterungen, jähen Annäherungen, Schreckmomenten und den Schocks.
Wenn ich fahre, schalten meine Gedanken auf Automatik. Und sie fühlen sich für den Moment frei. Die Bewegungen fließen, der Verkehr meist auch. Und wenn nicht, ist es wenigstens ruhig in der Kabine. So entrückt, dass man auch brüllen könnte, wenn man das möchte. Oder sich unbeobachtet fühlen darf, trotz der vielen Fenster. Was nicht dazu gehört, ist: Nässe. Wieder ein Tropfen! Wie ein diskretes, aber Aufmerksamkeit einforderndes Drängeln. Jetzt blicke ich doch nach rechts. Nach oben. Nichts! Und doch: Mein Auto weint. Es weint? Wer weint? Kann das sein? Wieder ein Tropfen! Gefolgt schon bald vom nächsten. So unberechenbar, so irritierend wie echte Tränen. Und doch. Weinen ist Erleichterung. Weinen fällt oft schwer. Nur wenn es fließt, wirkt es plötzlich natürlich. Sogar befreiend. Wieder ein Tropfen! So langsam gefällt mir das. Mein Auto weint. Mein Auto hilft mir beim Weinen. Es fühlt sich gut und beruhigend an. Schon gar nicht mehr nass und lästig. Und auch darüber nachzudenken, bringt nichts. Es führt nicht wirklich weit. Wie so oft. Es könnte das Dachfenster offen gestanden haben. Vielleicht ist eine Schicht Schnee in den Zwischenraum gerutscht und verflüssigt sich jetzt. Tropfen für Tropfen.
Auch beim nächsten Losfahren ist es dann wieder so weit. Dann wieder ein Tropfen. Fast beruhigend: Mein Auto weint jetzt regelmäßig. Und ich bin mit meinen Gedanken nicht allein. Auch nicht mit den Erinnerungen an meinen Sohn, der so oft auf langen, dunklen Fahrten neben mir saß. Einfach neben mir saß. Reden war nicht immer leicht, aber meist gar nicht notwendig. Es fühlte sich gut an, dass er da war. Jetzt ist er weg. Ich bin ein rationaler Mensch. Oder wäre es jedenfalls gerne. Und doch gefällt mir auch der Gedanke an die großen alten Geschichten von weinenden Statuen oder etwa vom bizarren Blutwunder von San Gennaro in Neapel. Über so etwas zu schmunzeln, fällt leicht. Und doch:
Ein Wunder? Es gefällt mir, Gefühle zu vermuten, wenn es oft so schwer ist, über sie zu sprechen. Mein Auto weint. Und ich lasse es zu. Ein Freund, der sich auskennt, sagt mir, dass Gummidichtungen an Panoramadachfenstern erodieren. Auch das ist richtig. Aber mir ist bis auf weiteres wichtig: Mein Auto weint. Mein Auto kann weinen. Ich fühle mit. Und das ist gut so.
Rupert Sommer