Die Bücher meiner Schwester – „Marianengraben“
Einen Roman zu lesen konnte ich mir nach meinem Verlust nicht mehr vorstellen. Da erreichte mich ein Päckchen meiner Schwester Gudrun…
Ich war immer eine leidenschaftliche Leserin. Fasziniert von Literatur habe ich Bücher regelrecht verschlungen. Wenigstens ein paar Seiten vor dem Einschlafen im Schein der Nachttischlampe waren immer drin. Ganz egal wie mein Tag gelaufen war. Wie gerne bin ich tief in die Lebenswelten von Romanfiguren eingetaucht! Habe mit ihnen mitgelebt und für die Dauer meiner Lektüre sogar gedacht wie sie. Und immer wieder haben sich mir ganz neue Sichtweisen auf die Welt eröffnet.
Doch mit der Wucht meines Verlustes war es damit vorbei. Ich mochte und ich konnte nicht mehr lesen – bis auf zwei Ausnahmen. Im freien Fall habe ich mich immer wieder von Gedichten ein wenig aufgefangen gefühlt. Selbst sprachlos, traf ich hier auf Bilder für das, was ich nicht ausdrücken konnte. Auch in Erfahrungsberichten von ähnlich Betroffenen begegneten mir meine eigene Trauer und mein Schmerz wieder. Aber einen Roman zur Hand nehmen und mich von einer Geschichte in eine andere Welt tragen lassen? Das konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Bis mich eines Tages ein Päckchen meiner Schwester mit einem Buch darin erreichte. …
Marianengraben
Gudrun war über eine Rezension auf das Buch „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber gestoßen (Eichborn Verlag 2020, als Hörbuch auf Spotify). Und hatte es selbst „probegelesen“, bevor sie es mir schickte. Ich brauchte eine Weile, ehe ich das Romandebüt der 1988 geborenen Jasmin Schreiber, auf Twitter aktive Biologin und Sterbebegleiterin, zur Hand nehmen konnte. Geborgen im Alkoven eines reetgedeckten Bauernhauses in Nordfriesland ließ ich mich auf die Geschichte von Paula, Helmut und Hund Julie ein.
Wie im Marianengraben, am tiefsten Punkt der Erde gefangen, fühlt sich Paula nach dem Unfalltod ihres kleinen Bruders Tim. Aus ihren Schuldgefühlen und ihrer Depression heraus führt sie erst die Begegnung mit Helmut, einem knurrigen Witwer. Auf ruppig-herzliche Weise nähern sich die junge Frau und der alte Mann einander an und begeben sich gemeinsam auf einen schrägen Roadtrip. Die liebevollen, skurrilen Schilderungen der ungleichen Protagonisten machen für mich den Charme des Buches aus. Eher als Wunschdenken habe ich empfunden, wie die Autorin Paulas Trauerweg als geradlinigen „Aufstieg“ skizziert, Meter für Meter aus dem Marianengraben nach oben. Wo doch das Trauern in Wellen verläuft - mit tiefen Tälern und immer wieder auch im Kreis ….
Viele der Bilder, die Jasmin Schreiber in ihrem Buch für den Tod und das Leben findet, haben mich dennoch berührt. Gekonnt verbindet die Autorin Leichtes und Schweres, Trauriges und Heiteres - und so konnte ich bei meinem „ersten Roman danach“ sogar das eine oder andere Mal lachen! Und habe dieses Buch, das zuerst meine Schwester mit mir geteilt hat, in der Folge mit einigen der lieben Menschen an meiner Seite „weitergeteilt“.
Birgit Kröniger