Macht der Frühling alles neu?
Es ist wie aus dem Nichts wieder das überwältigende Grün. Eigentlich doch jedes Jahr dasselbe und dann aufs Neue eine Überraschung, ein Zauber, ein Neubeginn. Düfte. Feuchte, fast schon wieder schwüle Luft.
Überall Aufbrechen, zartes Grün. Und natürlich die neuen, eigentlich alten Geräusche. Fast hätte ich vergessen, wie Vogelzwitschern klingt. Sehr vertraut und doch, als hörte ich es wieder zum ersten Mal. Was können die Amseln dafür, dass sie mich traurig machen?
Es ist wieder Frühling, eigentlich Aufbruch. Es ist schon das zweite Mal, dass alles wieder neu anfängt. Und doch ist leider alles so wie gestern, wie jetzt immer. Schon wieder fängt strahlend ein Tag, ein neues Jahr an. Und du bist nicht mehr dabei.
Ist das fair? Ist das zu ertragen? Dass ich trotzdem tief atme, wieder staune, alles Grün in mich aufsauge? Aufsaugen will.
Es tut gut, an unsere vielen langen und mit allen Sinnen offenen Spaziergänge zurückzudenken. Was sonst eher ein Wochenendvergnügen war, wurde zum Ritual. Vielleicht nicht ganz freiwillig zunächst, weil wir damals im ersten Lockdown einfach raus, vor die Tür mussten - in ein kleines Gefühl von Freiheit. Nach und nach, von Tag zu Tag wurde das immer wichtiger. Der Spaziergang mit dir, Benno, auf den ich mich freute.
Pünktlich standest du vor meinem Arbeitszimmer. In der Tür. Du drängtest mich nicht. Aber es war klar: Wir müssen raus. Nach dir hätte ich meine Uhr stellen können, wenn ich denn eine gehabt hätte.
Wenn ich zurückdenke, spüre ich dich ganz nah bei mir. Neben mir. Wir mussten uns kaum ansehen, um zu wissen, dass wir nebeneinander gingen. Und beim Spazieren zu reden, war auch nicht wirklich wichtig. Im Gegenteil. Es gab zwar ab und an das eine oder andere Thema. Und auch manchmal tatsächlich etwas, was wir besprechen wollten. Doch im Kern waren wir uns einig: Warum sprechen, wenn es nicht leicht fällt, Worte zu finden in Zeiten, denen die Worte und Erklärungen fehlten? Warum nicht einfach spazieren – und dabei nicht alleine sein?
Es war ja auch Frühling. Und die Natur mit jedem Tag mehr ein großes, vielversprechendes Fest. Wie eine Party, die sich erst ankündigt, sich mehr und mehr steigert – von der man weiß, dass sie bald wieder vorbei ist. Die ersten Blütenblätter rieselten bereits. Vögel zwitscherten. Enteneltern führten vermutlich sehr stolz, auch aufgeregt ihre, flauschigen Entenküken aus. Hier gab es ein interessantes Blatt zu sehen. Dort einen goldglänzenden Käfer. Ein Spinnennetz, in dem funkelnde Tropfen hingen. Auch mitten in der Stadt überraschend viel Leben, Blüten, Farben. Und übermütige Eichhörnchen. Was ich aber auch merkte: Dein Blick ging manchmal nach innen. Vielleicht spürtest du stärker als ich, dass jeder Frühling sehr kurz ist. Und zu Ende geht.
Jedes Mal ein Glück war es, wieder vor dem Haus zu stehen. Anzukommen. Unten am Zaun machten wir dann jeweils noch einmal Halt. Jeden Spaziergang beendetest du mit einer kurzen Umarmung.
Diese Nähe, die ich so sehr vermisse. Hölzern, eckig, vorsichtig. Vater und Sohn, fast schüchtern. Als ob wir beide gar nicht mehr genau wüssten, wie eng man sich packen kann, wenn man keine Sorge hat, den anderen damit zu überfordern. Ein Junge, der schon fast ein junger Mann war. Und das sollten, das wollten wir respektieren. Wie dankbar ich für diese Umarmungen bin.
Danach ging alles schnell. Du schautest mich kurz fragend an. Ich nickte. Und du ranntest die vier Stockwerke hoch und verschwandest in der Wohnung. Ich brauchte natürlich länger. Und ich erlaubte mir oft noch einmal, tief durchzuatmen, das Grün in mich zu ziehen, den Vögeln nachzuhorchen.
Jetzt sind sie wieder da, die Erinnerungen. Die Vögel zwitschern. Es duftet. Und ich wage es trotz allem erneut. Ich traue mich, das zu genießen. Wieder ein neuer Frühling, vielleicht noch kein echter Aufbruch. Warum auch? Es bleiben die Erinnerungen.
Rupert Sommer